Verletzt

Geschrieben von Hans-Martin Hiltner

Ich werde verletzt.

Bei meiner Geburt, es war ein Sonntag, gab es zu wenig Ärzte. Die rufende Mutter wurde Stunden um Stunden vertröstet. Mein Gehirn wurde durch Sauerstoffknappheit und eine Hohe Zange verletzt.

Bereits davor wurde ich im Mutterleib durch Rötelnviren, mit welchen sich die Mutter als junge Ärztin bei Patienten unverschuldet angesteckte, verletzt.

Meine Eltern waren fürsorglich zu mir und meinen Geschwistern. Meine Schwester nahm mich in ihrer Schulzeit zu einer Schulveranstaltung mit. Wir beide wurden durch Häme verletzt.

Bildung durch eine Sonderschule wurde mir verwehrt, mein großes Interesse an der Welt fand keine Förderung. Das hat mich verletzt.

Ich lernte zu überleben, ich tobe nicht mehr, wenn ich die Welt nicht verstehe, ich bin 58 Jahre alt. Die Ärzte sagen, ich habe den Geist eines Vierjährigen, dabei kann ich gut kombinieren und weiß so viel. Diese Unwissenheit der Ärzte sollte mich nicht mehr verletzen, tut es aber.

Warum werden die Menschen mit Behinderung in Heimen zusammen gelegt? Das stresst und verletzt nicht nur mich, sondern auch die Betreuer.

An den Tagen, an denen ich aus der Einrichtung zu meiner Familie komme, habe ich zuerst noch diese Tabletten-Müdigkeit, bin erstarrt. Dann aber laufe ich mit großen Schritten. Bin fröhlich. Grüße alle laut und gebe vielen ein Bussi. Winke jungen Mädchen zu. Was, zur Hölle, sind Verletzungen?!

Abends dann in der Einrichtung kommt wieder Chemie über meine Füße, ich stolpere über sie und verletze mich. Ich sehe verschwommen, kann nicht lachen oder weinen, werde starr. Dabei habe ich das Leben und meine liebe Familie so lieb. Ich weiß, es kommen wieder die guten Tage, und auch wenn es Kraft kostet, werde ich immer wieder die Freude suchen.

Wie sagt Albert Schweizer: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Unverletzt.


Kurzbiografie

Hans-Martin Hiltner wurde am 5. Mai 1960 als erstes von vier Kindern (das zweite verstarb im Alter von 6 Monaten am Plötzlichen Kindstod) von Dr. Regina und Dr. Gerhard Hiltner in Leipzig in Deutschland geboren. Papa und Mama waren Ärzte. Bei seiner Geburt kam es zur Sauerstoffknappheit. Davor hatte sich seine Mutter als junge Ärztin zu Beginn der Schwangerschaft, von der sie noch nichts wusste, bei einer Sprechstunde mit Röteln angesteckt.


Laudatio
von Heinz Janisch

Sehr geehrte Damen und Herren!

Oft genügt ein erster Satz in einem Text, und schon weiß man als Leserin oder als Leser, dass man gefordert ist.
Man ist aufgefordert, konzentriert und aufmerksam bei den Worten zu bleiben. Da gibt es kein rasches, halbherziges Vorbeilesen.
So ein erster Satz sagt: Dieser Text will – Wort für Wort- wahrgenommen werden. Da kommt ein Ton ins Erzählen, der ernst genommen werden will.
„Ich werde verletzt.“
So lautet der erste Satz in jenem Text, von dem ich hier sprechen möchte.
„Ich werde verletzt.“
Ein Text, der so beginnt, nimmt einen an der Hand, beim Lesen, und er lässt die Hand nicht mehr los, bis zum letzten Wort.
Neun kurze Absätze hat dieser Text, oft ist ein Absatz nur zwei, drei Zeilen lang, aber immer wird darin von einer Verletzung erzählt.
In 28 Zeilen erfahren wir von vielen Verletzungen – von Verletzungen im Mutterbauch, bei der Geburt, und später.
Die Hohe Zange, die Häme der anderen Kinder, das Unverständnis der Ärzte, die Tabletten-Müdigkeit, die Chemie, die einen über die eigenen Füße stolpern lässt – es gibt viele Arten der Verletzungen und der Demütigungen, und sie alle kommen in diesem Text zur Sprache.
Diese Sprache braucht nicht viel. Sie zählt auf, knapp, anklagend, präzise. Sie erstellt eine Liste der Verletzungen, die beim Lesen weh tut.
„Ich werde verletzt“.
Der Satz will nicht mehr aus dem Kopf.
Beinahe benommen liest man von den Folgen dieser Verletzungen und schaut zuletzt ungläubig auf das eine Wort, das am Ende steht: Unverletzt.

Unverletzt – mit dieser Sehnsucht endet ein Text, der zeigt, was Literatur bewirken kann.
Mit wenigen Sätzen wird ein ganzes Leben erzählt. Wenige Worte schaffen einen Raum, der eine Biografie spürbar werden lässt, eine Biografie, die dem Dunklen, das sie geprägt hat etwas Helles abtrotzen möchte: eine Sehnsucht nach einem Leben ohne Verletzungen.

„Auch wenn es Kraft kostet, werde ich immer wieder die Freude suchen.“
Auch solche Zeilen stehen in diesem Text, und das macht ihn so wertvoll. Allein, dass die Verletzungen sprachlich gebannt und festgeschrieben werden macht einen Denk-und Herz-Raum frei, in dem auch die Freude und die Sehnsucht nach dem Unverletzten Platz haben. Es ist die Sehnsucht nach einer Unverletztheit, die dem Leben einen neuen Glanz gibt.
28 Zeilen erzählen von einem großen Schmerz- und von seiner Überwindung, auch dank der Sprache.
Allein das Benennen von Schmerz macht ein anderes Reden und Denken möglich.

„Ich werde verletzt.“
Oft genügt ein erster Satz, und schon hat einen ein Text fest im Griff. Das kann schmerzhaft sein.
Aber nur so bleibt Sprache glaubwürdig.
Ich möchte kurz aus dem Lebenslauf von Hans-Martin Hiltner zitieren. Er schreibt:
„Ich wurde am 5. Mai 1960 als erstes von vier Kindern von Dr. Regina und Dr. Gerhard Hiltner in Leipzig in Deutschland geboren. Papa und Mama waren Ärzte. Bei mir kam es unter der Geburt zur Sauerstoffknappheit. Davor hatte sich meine Mutter als junge Ärztin zu Beginn der Schwangerschaft, von der sie noch nichts wusste, bei einer Sprechstunde mit Röteln angesteckt.“

Der Antrag auf Schuleintritt des Sohnes in eine Sonderschule wird abgelehnt. So besucht Hans-Martin Hiltner zuerst eine Kindertagesstätte, danach eine Jugendtagesstätte.
Er arbeitet in einer Behindertenwerkstätte als Reinigungshilfskraft, später als Küchenhilfe bei einer Firma in Leipzig.
Nach dem Umzug der Familie nach Markkleeberg ist er bis 1985 in einer Bekleidungsfirma als Reinigungshilfskraft tätig.
Er besucht ab dem Jahr 1985 eine Wochenförderstätte in Höfgen/ Grimma. Aufgrund des Todes seines Vaters und der Erblindung seiner Mutter übersiedelt er 2008 in das neu gebaute Wohnheim Katharina von Bora, das sich in der Nähe der betreuten Wohnung seiner Mutter befindet.
Hans-Martin Hiltner beendet seinen Lebenslauf mit folgenden Zeilen:
„Jedes Wochenende holen mich meine Mutter und oft die Geschwister nach Hause. Auch die Urlaube verlebe ich gemeinsam mit meiner Familie.
Im August 2014 wurde ich wegen Nierenkrebs operiert.
Ich hoffe, dass ich noch lange leben kann.“
Hans-Martin Hiltner und Beate Hennenberg –diese zwei Namen sind- in dieser Reihenfolge- unter dem Text mit dem Titel „Verletzt“ zu lesen.
Beate Hennenberg, die Schwester von Hans-Martin Hiltner, hat ihn bei der Erstellung seines Textes unterstützt.
Dafür gebührt ihr ein großer Dank.
Hans-Martin Hiltner ist dafür zu danken, dass er bereit war, den Verletzungen, die er erlebt hat, noch einmal mit Sprache zu begegnen. Dieses Vertrauen in den sprachlichen Ausdruck ist ein wichtiger Schritt. So kann – wie in diesem Fall – Literatur entstehen.

Ich gratuliere Hans-Martin Hiltner im Namen der Jury sehr herzlich zum Ohrenschmaus-Literaturpreis 2018!

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!


Auszug aus der Jurybegründung

„Ich werde verletzt“.
Ein Text, der so beginnt, tut weh. Ab der ersten Zeile.
Strophe für Strophe werden in 28 Zeilen Verletzungen aufgelistet, konzentriert und detailliert.
Die Hohe Zange, die Viren, die Tabletten-Müdigkeit, die Häme.
Es gibt viele Arten der Verletzung.
Strophe für Strophe spürt man den Schmerz – und die Sehnsucht nach einer Unverletztheit, die dem Leben neuen Glanz gibt.


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