Zu zweit ist weniger allein

Geschrieben von Markus Engfer

Ein trauriger Mensch. Warum? Eine Behinderung.

Mich störte meine Behinderung, obwohl ich nicht genau wusste, was meine ist. Eigentlich könnte ich glücklich sein, denn ich sehe wirklich nicht behindert aus.
Und ich habe Fähigkeiten, die manche Behinderte sich wünschen würden. Ich kann rechnen, lesen und auch schreiben. Bestimmt nicht so gut und schnell wie ein Hauptschüler, aber ich sehe mich zu diesem Zeitpunkt sehr zufrieden mit mir selbst. Ich bin ja auch fast ganz normal.
„Normal“ in dem Sinne von Menschen ohne eine Behinderung.
„Wenn ich dich so ansehe, siehst du gar nicht so behindert aus“ habe ich schon mal als Kompliment bekommen.
Dieses Kompliment bekommt man nicht oft, darum sollte man vielleicht etwas glücklich oder stolz sein. Doch bei mir gab es die Traurigkeit und auch etwas von der Angst in mir. Hin und wieder bin ich traurig darüber, dass ich behindert bin.
Denn behindert zu sein ist manchmal nicht schön in unserer Gesellschaft. Die Gesellschaft hat zwei Gruppen, bin ich der Meinung.
Die eine Gruppe ist froh, wenn ihnen kein Behinderter über den Weg läuft. Denn sie lachen die Behinderten aus und finden, sie sollen zu Hause bleiben. Sich verstecken oder nicht mal zur Schule gehen.
Die zweite Gruppe ist etwas nachdenklicher. Sind behindertenfreundlich oder sozial eingestellt. Vielleicht haben sie ein gutes Gefühl, wenn ihnen behinderte Menschen begegnen. Sie gucken vielleicht Behinderte nicht dumm an und damit helfen sie schon.
Diese Gruppe aus der Gesellschaft redet von „Menschen mit Handicap“. Es bedeutet „Menschen mit Behinderung“. Ein Handicap ist etwas nicht zu können. Einer, der eine Brille trägt, hat das Handicap, nicht so gut zu sehen. Das ist sein Handicap und es gibt viele andere Handicaps oder Behinderungen. Doch sind wir mal ehrlich, haben wir nicht alle ein Handicap?

Oft fahre ich mit einem öffentlichen Verkehrsmittel. Oft bekomme ich dann Begebenheiten mit. Zwei davon habe ich aufgeschrieben. Das erste Ereignis geht über die junge Gesellschaft, die sich cool fühlen, wenn sie etwas Unnormales machen. Zumindest finde ich es unnormal.

Es ist ein Tag wie jeder auch.
Ich steige in den Bus ein. Um mitfahren zu können, zeige ich meinen Behindertenausweis vor. Der Busfahrer nickt mich an und ich suche mir einen Platz. Ich stelle fest, dass ich fast der einzige bin. In der Mitte des Busses sehe ich eine alte Dame. Ganz hinten in der letzen Reihe sitzt ein junges Paar. Ich setze mich gegen über drei Jungen. Auf der Fahrt unterhalten sich die Jungen.
Plötzlich macht der eine Junge eine Aussage.
„Ich bin behindert“ stottert er, obwohl er nach meiner Meinung nicht behindert ist. Und er tippt mit dem Finger an die Wand statt auf den Stoppknopf. Die anderen Jungen machen ihn nach und lachen dabei. Sie meinen sicherlich, dass Behinderte nicht in der Lage sind den Stoppknopf zu drücken.
In diesem Moment überlege ich, ob es an mir gelegen hat. Ob die Jungen das wegen mir gemacht haben? Denn der eine Junge hat bestimmt meinen Ausweis gesehen, den ich dem Busfahrer vorgezeigt habe. Ich überlege weiter, ob ich mir das nächste Mal eine Fahrkarte kaufen sollte, damit es nicht so aufäÇllt, dass ich behindert bin.

Denn ich glaube, manche Menschen werden eher akzeptiert, wenn sie eine Fahrkarte vorzeigen statt ihren Behindertenausweis.
Ich hatte auch manchmal Angst gehabt, als ich noch zur Schule ging.
Ich hatte gehört, dass Adolf Hitler die Macht hatte und alle Behinderten umbringen wollte. Auch viele Menschen wurden umgebracht, die eine andere Glaubensrichtung hatten.
„Ist das nicht schrecklich, in dem Land zu wohnen, wo man früher umgebracht wurde?“ fragte ich mich. Doch die anderen in der Klasse störte es nicht, dass Behinderte damals umgebracht wurden. Ich fand es vielleicht als einziger in der Klasse traurig und war ängstlich.

Heute ist alles vorbei und wenig erinnert noch daran, wie es früher gewesen ist. Trotzdem macht es mich ab und zu unglücklich behindert zu sein. Manchmal zweifele ich selbst an mir.

Nach zwei Monaten hatte ich ein neues Ereignis.

Ich komme vom Sport und fahre mit dem Bus nach Hause. Mit einem traurigen und niedergeschlagenen Gesichtsausdruck setze ich mich auf den nächsten Platz. Ich mache etwas die Augen zu und merke, wie ich schwitze. Ich rieche etwas unangenehm. Plötzlich reiße ich wieder die Augen auf. Denn ein junger Mann mit Krawatte fragt mich, ob neben mir der Platz frei sei.
„Ja“ sage ich und er setzt sich neben mich. So fahren wir fünfzehn Minuten zusammen Bus, bis ich aussteige. Als ich von der Bushaltestelle nach Hause gehe, denke ich an den Augenblick nochmal zurück.

„Wenn Sie neben einem schwitzenden, schlecht riechenden und behinderten Jungen sitzen wollen“ hätte ich eigentlich auch sagen können. Schließlich waren ja noch andere Plätze frei gewesen. Denn er hätte einen besseren Sitznachbarn verdient. Der nicht behindert war.
Manche andere Behinderte würden anderes reagieren.
Doch in solchen Momenten bin ich so traurig über mich selbst. Manchmal würde ich gern anders sein.
Jeder Mensch mit einer Behinderung geht etwas anders damit um.
Einige sind es, doch zeigen es nicht. Ziehen sich cool an und denken nicht daran, dass sie behindert sind. Dann sind sie zufrieden und zeigen ihren Stolz. Ihre Macht vom Körper bis zu Ausdrücken wie „Ey, bist du behindert?“. Oft begegne ich solchen Menschen und frage mich „Wie viel Stolz darf man als Behinderter haben?“

Stolz ist sehr wichtig und jeder Mensch sollte stolz sein dürfen. Meine Meinung ist, man sollte nicht jeden Tag nach Stolz streben. Doch stolz ist man sicher, wenn man etwas Besonderes geschafft hat.

Früher, als ich elf Jahre gewesen war, meinte ich Stolz und Glück zu besitzen. Auch wenn ich früher nicht genau wusste, was es überhaupt war. Ich hatte Freunde, dies machte mich stolz. Doch später kamen die Tage, an denen ich traurig gemacht worden war und sich dieses Bewusstsein änderte.
Ich war glücklich, doch in mir war ich eigentlich traurig. Warum ich häufig weinte, wusste ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass mir in den Jahren später so viel weh getan wurde.
Ich fing an meine Geschichten aufzuschreiben. Ich sollte zufrieden sein, sagte ich mir. Denn meine Lehrer interessierten sich für meine Geschichten. Darüber hatte ich mich gefreut, war etwas stolz.
Trotzdem kamen mir immer wieder die Tränen. Öfters war ich allein zuhause und hatte geweint. Ich wollte einfach über das Leben nachdenken. Einen stillen Moment für mich da sein.
Bei der Einsamkeit ist mir etwas eingefallen.
Mir fehlte etwas, um glücklich oder besser gelaunt zu sein. Das Grundbedürfnis des Menschen. Damit meine ich die Liebe.

Ich erinnere mich noch an meine Mitschülerin.
Diese war meine erste Liebe oder das erste Mädchen, was ich mochte. Zusammen gingen wir in eine Klasse und ich war zu schüchtern, um sie anzusprechen. Da müsste ich elf Jahre alt gewesen sein und war etwas unerfahren, was die Liebe anbetrifft.
Doch ich wusste, dass sie in meinem Herzen existierte. Meine Mitschülerin sah immer gut aus, egal, was sie trug. Sie war beliebt in der Klasse und ein freundlicher Mensch.
Manchmal sprach sie mich an und das machte mich glücklich. Doch ich ließ mir die Liebe nicht anmerken. Ich fand ihre Haare toll und ihren Charakter.
Später merkte ich, wie die anderen Jungen in der Klasse sie beobachteten. Sie sprach oft mit den Jungen in der Klasse. Die Jungen machten viel Spaß, und so kam es, dass ein Mitschüler sich in meine Mitschülerin verliebte. Er machte ihr immer wieder Komplimente.
Ich sah dann oft nach unten oder schaute weg. Ich fand es traurig zu sehen und hatte sie nicht mehr geliebt. Denn mit der Liebe ist es nicht nur schön, manchmal auch verletzend.
Ich zog mich öfters zurück. Doch schließlich merkte ich, wie ich eine Angst hatte, die viele Depression-Patienten haben. Es war die Bindungsangst oder Beziehungsangst.
Irgendwann mal habe ich davon im Internet gehört. Es passte zu mir, weil ich Depression habe und weil ich behindert bin. Ich las die Symptome.
Viele Menschen wünschen sich einen Partner. Zum zweiten Mal im Leben oder wie bei mir zur ersten Beziehung. Der Partner soll sich um sie kümmern, sie verstehen und auch lieben. Sie wünschen sich, mit ihm glücklich zu sein und sich einander zu vertrauen. Auch die schlechten Seiten des Lebens überstehen und füreinander da sein.
Das habe ich verstanden, denn bei mir war es ähnlich.

Ich wünsche mir eine Partnerin. Die diese Eigenschaften hat und dass sie mich versteht. Manchmal, abgesehen von meiner Angst, bin ich ein glücklicher Mensch. Ich glaube, ich bin ein liebevoller Mensch.
Trotz der kleinen Problemen und Schwierigkeiten.

Ich sah viele gute Menschen nach meinem Geschmack und meinen Träumen. Doch ich hatte wieder Angst. Angst sie an zu sprechen. Der Grund für meine Angst sind wohl die Depressionen und meine Behinderung.
Die große Sorte Mädchen sind Menschen, die behinderte Jungen ignorieren. Andersrum gibt es Jungen, die die Mädchen ignorieren. Die Mädchen wollen einen normalen Freund ohne eine Behinderung. Denn sie wollen einen Freund, womit man bei der nächsten Party angeben kann.
Dass man sagen kann, ich habe den hübschesten. Doch sind wir mal ehrlich, so ähnlich ist es bei Jungen auch.
Die Vorstellung immer alleine zu sein, macht mich traurig. Nur ganz wenige Mädchen haben mich angesprochen.

Wie ein Mädchen mal im Bus neben mir sitzen wollte oder mich nach dem Weg gefragt hat. Oder wie eines sich bedankt hat, dass ich ihr die Tür aufgehalten hatte. Und jedes Mal sah ich ihr kleines Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich freute mich dann auch.
Liebe war hier dennoch nicht der Fall, es war nur die Höflichkeit eines Mädchens. Trotzdem merkte ich, zu zweit ist weniger allein.

lebensberichte_markus_engferMarkus Engfer

 


Auszug aus der Jurybegründung
von Ludwig Laher:

Hier ermächtigt sich jemand, sehr kompetent und mit eindringlichen Beispielen, sehr ehrlich und berührend über seinen Platz in der Welt zu schreiben, der ihm kaum Gelassenheit erlaubt.