Mein neuer Weg

von Melanie Corn

Vor drei Jahren war Papa vier Wochen weg und wir, Mama, Oma und ich, haben nicht gewusst, wo er ist. Eines Nachmittags hat er angerufen und hat gesagt, er käme wieder zurück.
Weihnachten ist er bei uns geblieben und hat dann Mama gefragt, ob er donnerstags und freitags irgendwo anders schlafen darf. Sie hat gesagt: „ Was soll das, das akzeptiere ich nicht“. Dann hat er gesagt: „ Gut, dann überlege ich mir was!“ Er ist gleich aus dem Zimmer
gegangen. Im Moment habe ich nicht gewusst, auf welcher Seite ich stehen soll. Zuerst habe ich mich wahnsinnig schlecht gefühlt, weil Mama so verärgert über Papa war. Er war vorher noch nie länger in der Nacht weg. Ich konnte mir diese Situation nicht vorstellen. Mama hat erst nichts gesagt. Ich habe Mama gefragt, was es heißt, über Nacht wegzubleiben. Sie hat gesagt, sie würde es mir nicht sagen. Dann war ich wieder still.

Von Mama habe ich erfahren, dass der Papa zu ihr gesagt hat, dass er sie nicht mehr liebt, sondern nur noch mag. Papa hat mich dann zu sich in das Wohnzimmer geholt und mir erklärt, dass er auszieht, weil er Mama nicht mehr liebt und dass er eine Freundin hätte. Aber mich würde er nach wie vor gern haben und lieben, aber Mama nicht mehr. Er hat dann nachher gesagt, das käme in den besten Familien vor und sie hätten sich aus einander gelebt. Und wenn ich Lust hätte, könnte ich ihn am Wochenende bei seiner Freundin besuchen kommen. Das war Anfang Jänner.

An Silvester haben wir alle noch zusammen Karten gespielt. Dort dachte ich, es sei alles wieder in Ordnung. Und jetzt bin ich aus allen Wolken geflogen. Ich bin traurig gsi, und böse auf den Papa, weil er gehen wollte und uns Schnall auf Fall einfach so allein lässt. Ich habe mir gedacht, wie stellt er sich das vor? Mama ist doch krank, sie kann doch nicht alleine in die Stadt gehen. Soll ich jetzt für alle kochen, Oma begleiten, Mama begleiten und auf mich selber schauen, auch noch. Ich musste erst mal selber überlegen, wie kriege ich das hin?

Und dann ist der Tag gekommen, an dem er dann wirklich ausgezogen ist. Es war ein Samstag, da war ich zuhause. Oma war krank, ich musste auf sie schauen. Am Anfang habe ich mich gut gefühlt und war stolz auf mich, weil ich so viel helfen konnte. Mama ist es von Woche zu Woche schlechter gegangen. Sie hat die gleiche Behinderung wie ich, Muskeldystrophie. Ihre Muskeln haben sich aufgelöst und sind zu Gewebe geworden und ihr Körper ist eingefallen. Auf einmal hat sie den Kopf nicht mehr heben können. Sie war sehr schwach, hilflos und irgendwie immer traurig. Sie hat sich an mir festgehalten. Ich war ihre Stütze.

Manchmal habe ich mich in die Enge getrieben gefühlt. Wenn ich es nicht mehr ausgehalten habe, bin ich in die Stube Fernsehen schauen gegangen. Von meinem Freund habe ich Unterstützung bekommen. Er hatmir auch an den Wochenenden mit Mama und Oma geholfen. Papa hat uns noch eingekauft.

Eigentlich wollte ich nichts mehr von ihm wissen. Aber dann habe ich mir gedacht, ich muss mich wieder mit ihm versöhnen. Ich wollte noch Kontakt zu ihm haben. Darum habe ich ihn angerufen und ihn gefragt, ob wir nochmal reden können. Wir haben dann daheim in der Küche miteinander geredet. Er hat sich darüber gefreut, dass ich mich bei ihm gemeldet habe. Es war gut für uns beide.

Drei Mal in der Woche ist dann der Krankenpflegeverein zu Mama und Oma gekommen, hat sie geduscht, verbunden und mit ihnen geredet. Zweimal in der Woche ist der Mohi gekommen, bügeln und putzen. Und Mamas Freundin war einmal in der Woche da. I hab mir zuerst denkt, jetzt muss ich alles übernehmen, was Papa für uns gemacht hat. Dann habe ich gemerkt, dass ich das nicht alles kann. Ums Essen habe ich mich am Wochenende gekümmert. Erst war es schwer, aber mit Anweisungen von Mama ist es gut gegangen.

Mama hatte dann die Idee mit der Caritas Wohngemeinschaft und ich sollte Mal in der WG Vinzenz schnuppern. Sie wollte, dass ich mir das mal anschaue und nicht gang fremd bin, wenn ich mal eine brauche.

Im ersten Moment habe ich mir gedacht, sie will mich abschieben und ich hab sie gefragt, ob sie mich nicht mehr daheim haben will. Aber sie hat gesagt, nein, das ist nicht so. Sie hat gesagt, ich soll das mal auf mich zukommen lassen und mal ummi gehen. Erst hab ich immer gemault, doch dann hat sie einfach einen Termin für mich ausgemacht und mir gesagt, wann ich kommen kann. Ich habe gesagt: „ Ich geh nicht!“ Sie hat gesagt, sie sitzt am längeren Hebel als ich und schließlich habe ich zweimal geschnuppert. Es war interessant, entspannend und jedes Mal schön. Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt, als es war.

Eine Zeitlang bin ich dann noch daheim gsi. Papa hat mich dann gefragt, ob ich nicht zu ihm ziehen will. Das habe ich Monika, meiner Betreuerin im Sprungbrett erzählt. Sie hat
mir geraten, in eine Wohngemeinschaft zu gehen, sonst würde ich mich bei Papa eingewöhnen und müsste mich dann wieder für die WG umgewöhnen, wenn es nicht klappt. Sie hat gesagt, ich soll mir überlegen, ob ich in die WG Vinzenz oder in die WG Lea gehen will. Denn in der Lea seien die Bewohner jünger und in meinem Alter. Sie hat mir geraten mir das mal anzuschauen und dort zwei Wochen zu schnuppern. Mama, Oma
und ich haben dann mit dem Case Manager der Caritas gesprochen und jedes Mal, wenn ich den Stellenleiter von der WG auf der Straße getroffen habe, hat er mich gefragt, wann ich mal zu ihnen schnuppern komme.

Anfang August war ich mit Papa dort und habe mir alles genau angeschaut. Wir kommen gut miteinander aus und haben täglich Kontakt.

Und dann, am dreißigsten August 2015 war es soweit. Ich wollte für zwei Wochen in der Wohngemeinschaft einziehen und schnuppern. Nach zwei Tagen hat es mir so gut gefallen, dass ich nicht mehr weg wollte. Mein Entschluss stand fest. Ich wollte sofort bleiben, denn ich war hier gelöst und einfach zufrieden. Ich hab mich hier unter den jungen Leuten wohl
gefühlt. Die BetreuerInnen waren jung und die BewohnerInnen warengleich mit mir verbunden. Sie haben mich gut aufgenommen. Ich habe die BewohnerInnen schon länger gekannt. Sie waren in meinem Alter und wir haben uns gleich gut verstanden.
Papa war über meinen Entschluss begeistert. Mama hat sich im ersten Moment gesträubt. Sie hatte Angst, dass sie mich verliert und wollte, dass ich jedes Wochenende nachhause komme. Das habe ich dann auch gemacht. Zuhause bei Mama und Oma lebte mittlerweile eine 24StundenHelferin. Sie schaute gut auf die beiden und ich durfte nichts mehr tun.

Das war ganz komisch für mich. Erst habe ich die letzten Monate alles gemacht und jetzt plötzlich nichts mehr. Ich habe nur noch rumgesessen und blöd in die Luft geschaut. Ich habe mich leer gefühlt und habe mir ab und zu selber einen Kaffee gekocht. Das durfte ich noch. Mama hat viele Ängste gehabt und dachte, ich fühle mich in der WG nicht wirklich wohl.

Oma hat auch immer gesagt, bleib da. Ich habe ihnen dann einfach klar gesagt: „Ich wohne jetzt nicht mehr hier zuhause, ich wohne jetzt fix in der WG Lea!“ Und dann bin ich eine viertel Stunde später in die WG gegangen.

Christine, sie kannte ich schon vom Boccia, ist dort gleich meine beste Freundin geworden. Sie war begeistert und hat sich sehr gefreut, als ich in der WG eingezogen bin. Mittlerweile sind wir richtig eng befreundet und geben uns gegenseitig Halt. Sie vertraut mir ihre Probleme und Sorgen an und ich ihr auch meine.
Oma wohnt jetzt im Pflegeheim und ich gehe sie oft besuchen. Mama ist schon im September 2015 plötzlich gestorben. Ich hatte es schon geahnt, weil sie nicht mehr so gut beieinander war und ihre Kräfte sie verlassen haben. Wir haben vorher auch noch öfters miteinander über die WG geredet. Sie hat sich nachher dann doch noch darüber gefreut,
dass ich mich so schnell eingelebt habe und konnte mich dann loslassen. Ich bin selbstbewusster und selbständiger geworden und rede viel mehr, als früher, denn in der WG Lea ist immer was los.

Als Mama gestorben ist, hat mir die WG Halt gegeben. Aber dort konnte ich mich nicht von Mama verabschieden, das konnte ich nur daheim in unserer Wohnung. In unserer Wohnung habe ich mich wohl gefühlt und Mama auf irgendeine Art gespürt, obwohl sie gestorben war.

Aber jetzt ist unsere alte Wohnung leer und fast unheimlich und die WG ist mein neues Zuhause, mein Daheim. Und vielleicht schaffe ich es sogar, dass ich in zwei, drei Jahren alleine in einer Wohnung leben kann.


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