Die Zeit

von Herbert Schinko

Es ist viertel nach 8.
Die Zeit bleibt nicht stehen.
Die Zeit muss man ganz fest halten.
Die Zeit muss man behalten.
Die Zeit muss man in die Herzen hinein tun, wenn ich Zeit habe.
Die Zeit kommt irgendwo anders hin.
Die Zeit habe ich in meinem Zimmer.
Die Zeit habe ich zum Baden.
Die Zeit brauche ich zum Arbeiten.
Die Zeit bleibt bei mir.

Auf der Uhrzeit ist es halb 9.
Die Zeit vergeht, weil die Uhr so schnell geht.
Die Zeit habe ich wenn ich aufstehe.
Die Zeit habe ich zum Fenster aufmachen.
Die Zeit habe ich zum Zähne putzen.
Die Zeit habe ich zum Frühstücken.
Die Zeit habe ich zum schreiben.
Die Zeit habe ich um Maria zu besuchen.
Die Zeit muss ich haben.

Die Zeit kommt immer öfter, weil die Zeit ist so wichtig, weil die Zeit nicht stehen bleibt.
Meine Uhrzeit stimmt gar nicht.
Im Wohnzimmer und im Zimmer stimmt die Uhrzeit nicht mehr.
Gestern habe ich an der Uhr gesehen, dass die Zeit nicht immer stimmt.
Die Zeit kommt immer zu uns.

Die Zeit kann man lesen auf der Uhr, das die Uhrzeit 10 Uhr ist.
Die Zeit habe ich, in die Werkstatt zu gehen und zu arbeiten.
Die Zeit gefällt mir ganz gut, weil die Zeit wird immer bei uns bleiben.
Wir haben die Zeit zum Schreiben.
Wir kommen jeden Freitag zum Schreiben, weil wir so viel Sachen schreiben, weil mir so viel wissen.
Die Zeit muss man fest halten.
Die wichtige Zeit kommt.
Die Zeit ist immer richtig, weil die Zeit stimmt vollkommen.

Ich muss mir die Zeit nehmen.
Ich will die Zeit schon nehmen.
Welche Zeit ist mir lieber?
Um halb 2 sind wir fertig, weil die schönste Zeit ist.
Weil die Zeit nicht stehen bleibt, die kommt immer her.
Die Zeit muss man nehmen.
Die Zeit muss man halten.
Die Zeit brauch ich zum üben.
Die Zeit rennt immer weiter.
Die Zeit muss nicht stehen bleiben.
Die Zeit muss nicht weg gehen.
Die Zeit soll da bleiben bei mir.


Herbert Schinko Kurzbiografie

Seine Schulzeit verbrachte er in St. Isidor und St. Pius. Seither arbeitet Herbert Schinko in den verschiedenen Werkstätten der Caritas für Menschen mit Behinderungen (CMB) in St. Pius. In den Arbeitsgruppen Montage und Verpackung ist er ein zuverlässiger, konzentrierter Mitarbeiter. Wichtig ist ihm ein gleichmäßiges Arbeitstempo und ohne Druck arbeiten zu können.

Die Hobbys von Herbert Schinko sind: reiten, Puzzle bauen (bis zu 3000 Teile), Tischtennis, Briefe schreiben und jonglieren. Er kann seine Freizeit einzuteilen und genießen. Seit 2002 nimmt er an dem jährlichen Workshop mit Künstlern in St. Pius teil. Er ist dort in der in der Literaturgruppe.

Seinen Alltag bewältigt er im Rahmen von St. Pius selbst bestimmt und selbstständig.


Laudatio
von Heinz Janisch

„Das ist die Sehnsucht: Wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.“
So beginnt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke.
Die Zeit – sie wird in vielen literarischen Texten zum Thema.
Aktuell im Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ von Christoph Ransmayr. Im Roman wird ein englischer Uhrmacher vom Kaiser von China beauftragt, Uhren zu bauen, die es vermögen, die Zeiten des Glücks, der Kindheit und der Liebe zu messen. Der Kaiser möchte sogar auch eine Uhr zur Messung der Ewigkeit haben.
Würde man sich die „Ewigkeit“ als ein „immerwährendes Jetzt“ denken, wie manche Denker das tun, dann müsste so eine Uhr durchaus machbar sein- sie würde einfach das Jetzt messen. Und das neue Jetzt, und das Schon- Wieder-Jetzt, eine Jetzt- Ewigkeit, bestehend aus Sekunden.

Unser Umgang mit der Zeit – ob in der Literatur oder im Alltag – ist ein schwieriger.
„Wir haben Zeit“ sagen wir, dabei wissen wir, dass sie uns hat, und zwar fest im Griff. Sie packt uns am Genick, sie streicht uns über die Haare, manchmal tippt sie uns ganz leicht an die Schläfen.
Wir reden vom Zeit-Vertreiben , dabei sollten wir lieber schauen, dass sie bei uns bleibt, dass wir sie gut im Auge haben, die Zeit.
Bei den Einreichungen zum diesjährigen Ohrenschmaus-Literaturpreis war ein Manuskript mit der Nummer 70 dabei.
Die Jury weiß ja keine Namen von Autorinnen und Autoren, sie bekommt nur Texte mit einer Zahl.
Die Wirkung des Textes allein soll für sich sprechen.
Der Text mit der Nummer 70 trägt den Titel „DIE ZEIT“, geschrieben in großen Buchstaben, passend zu einem großen Thema…
Dieser Text wurde bei der Jurysitzung von einigen rasch genannt, als es darum ging, Texte vorzuschlagen, die einen erreicht haben, die einen berührt haben, die nachklingen.
„DIE ZEIT“ – das ist so ein Text, darauf haben wir uns alle geeinigt.
„Die Zeit muss man ganz fest halten“ heißt es da einmal im Text, aber wir alle wissen, wie schwer, wie unmöglich das ist.
„Die Zeit muss man in die Herzen hinein tun“ steht da als eine mögliche Lösung. So könnte es vielleicht gehen, mit der Zeit, dass man sie ins Herz hineintut, als schöne Erinnerung etwa, zum Beispiel an einen Besuch bei Maria, wie im Text zu erfahren ist.

Der Text „DIE ZEIT“ ist klar strukturiert.
Er beginnt mit einer Zeitangabe. “Es ist viertel nach 8.“
Später erfahren wir, dass es „halb neun“ geworden ist.
Die Uhr tickt voran, so wie das Nachdenken über die Zeit auch im Text rhythmisch weitergeht.
„Die Zeit vergeht“, „Die Zeit kommt“, „Die Zeit bleibt“, so beginnen viele Sätze, sie folgen dem Takt der Zeit, und dann plötzlich –mitten in diesen Rhythmus hinein – kommt es zu einem Bruch, zu einem Innehalten, zu einem Erstaunen:
„Meine Uhrzeit stimmt gar nicht.“
Das ist tröstlich, erschreckend, komisch und beruhigend zugleich, denn vielleicht folgt unser Erleben doch einem anderen Takt als dem der Uhr.
„Die Zeit ist immer richtig“, stellt der Autor später im Text klar.
Uhren hin oder her.
Auf Worte wie „Flut, Glück oder Gebet“ lässt sich der Ausdruck „Zeit“ im etymologischen Wörterbuch zurückführen.
Von all dem erzählt der Text „DIE ZEIT“, der so eindringlich dahinfließt.
Es ist ein Text, den man auch wie ein Gebet lesen kann, wie eine Beschwörung der Zeit – und des Glücks:
Die Zeit muss ich haben.“

An einer Stelle im Text steht: „Die wichtige Zeit kommt.“ Da spürt man beim Lesen beinahe so etwas wie ein innerliches Sich-Aufrichten, ein Sich-Schönmachen, man will ja bereit sein für die wichtige Zeit.
Aber dann – in der nächsten Sekunde- weiß man es plötzlich:
Die wichtige Zeit muss gar nicht erst kommen. Sie ist schon da, genau JETZT , und JETZT, und im neuen Jetzt und im Schon -Wieder-Jetzt.
Genau JETZT sind wir Teil dieser Jetzt-Ewigkeit…

Als uns am Ende der Jury-Sitzung die Namen der Preisträgerinnen und Preisträger mitgeteilt wurden habe ich mich sehr gefreut.
Herbert Schinko hat den Text Nummer 70 verfasst, den Text über „DIE ZEIT.“
Herbert Schinko ist ein Autor, der seit vielen Jahren beim Ohrenschmaus-Literaturpreis mit dabei ist, er hat oft einen Ehrenpreis bekommen, seine Texte sind aufgefallen.
Ich möchte sogar behaupten, dass es einen eigenen Herbert-Schinko-Sound gibt, der seine Texte unverwechselbar macht.
Der Text Nr. 71 hat z.B. auch diesen Herbert-Schinko-Sound, da geht es um „Herzenssachen“. Da wird von Herzfreude, von Herzweh, von Herzliebe erzählt.
Und es gibt ein selbstgemachtes Herzbuch.
„Das ist meine Herzdecke für immer“ heißt es über dieses Buch.
Ich würde dem Autor Herbert Schinko wünschen, dass sich ein Verlag findet, der seine Texte in einem Buch versammelt, in einem Herzbuch, damit wir auch so eine Herzdecke haben, für immer.

Herbert Schinko, geboren 1982, lebt in einem Haus der Caritas in St. Pius in Steegen-Peuerbach in Oberösterreich und arbeitet dort in den Werkstätten mit, und zwar im Bereich Montage und Verpackung.
Er besucht regelmäßig die Künstler-Workshops, die angeboten werden und die Literaturgruppe im Haus, die von Theresia Klaffenböck geleitet wird. Es ist kein Zufall, dass im Vorjahr mit Silvia Hochmüller eine Autorin aus St. Pius ebenfalls einen Ohrenschmaus-Literaturpreis erhalten hat, damals mit einem berührenden Text über die Seele.
“Meine Seele läuft immer davon“ war da zu lesen. Und: „Ich hole sie mir zurück.“ Auch Silvia Hochmüller besucht die Literaturgruppe in St. Pius.
Ich möchte Theresia Klaffenböck und allen, die in Ihren Häusern Schreib-und Literaturgruppen leiten, von Herzen für Ihre großartige und wichtige Arbeit danken.
Ich denke, diese Schreibgruppen sind wichtig. Da entsteht etwas in einer Gruppe, in der man sich angenommen fühlt, in der man das Vertrauen hat, dass die eigenen Gedanken und Texte ernst genommen werden.
Da bekommen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer etwas, das unbezahlbar ist – Ermutigung und Wertschätzung.
Ermutigung und Wertschätzung – beides soll ja auch durch den Ohrenschmaus-Literaturpreis geschehen.
Es geht bei diesem Literaturpreis – wie es Franz-Joseph Huainigg und Felix Mitterer immer wieder betonen- nicht um einen Mitleidsbonus, es geht schlicht und einfach um Literatur.

In diesem Sinne gratuliere ich dem Autor Herbert Schinko – im Namen der Jury – ganz herzlich – zum Ohrenschmaus -Literaturpreis 2016.


Auszug aus der Jurybegründung
von Heinz Janisch:

„Ein Text, den man wie ein Gebet lesen kann, wie eine Beschwörung des Glücks: „Die Zeit muss ich haben.“


Diesen Text teilen: