Sie hat sich richtig entschieden oder wir haben es zusammen geschafft!

von Sybille Grafl

Sie hat sich richtig entschieden oder wir haben es zusammen geschafft!

Eines weiß ich noch, ich bin daheim auf die Welt gekommen und musste sofort mit der Rettung ins Spital.

Meine leibliche Mutter hat sich vielleicht schon während der Schwangerschaft Gedanken gemacht, wie es mit mir weiter gehen soll, wenn ich nachher auf die Welt komme.

Sie hat mich auf jeden Fall am leben gelassen und mir eine faire Chance gegeben. Sie machte sich sicher Sorgen wegen mir und wusste nicht, wie es mit mir und unserer Zukunft weitergehen sollte.

Arbeit, ein Kind haben, das wäre ihr vielleicht über den Kopf gewachsen.
Ich bin richtig froh. Sie hat sich richtig entschieden! Sie hat mir praktisch mein Leben geschenkt und ich habe es auch wollen.

Und meine Adoptiveltern, das sind schon meine Eltern, seit sie mich im Spital in Bludenz gesehen haben. Sie haben dafür gesorgt, dass ich am Leben bleibe und groß werde. Es war oft mühsam, wegen meiner Skoliose, den Operationen, die folgten und meiner vielen, großen Schmerzen, die ich nach wie vor immer mal wieder habe.

Aber wir haben es zusammen geschafft, ich habe alles und ich bin zufrieden!

Sie kümmern sich super um mich, sie sind einfach spitze, meine Mama und mein Papa, Anneliese und Josef. Gemeinsam sind wir ein unschlagbares Team.

Das hat schon begonnen, als sie mich jeden Tag im Spital zwei, drei, vier Stunden besucht haben, als ich noch im Brutkasten lag.

Als Baby war ich sehr schwach und konnte kaum Nahrung aufnehmen, höchstens vierzig oder fünfzig Gramm. Alle Stund hat Mama mich buddeln müssen, mehr habe ich nicht ai kriagt. Das war ganz schö mühsam, für Mama und für mi. Aber wir haben es geschafft, oder!?

Mit vier Jahren weiß ich noch, bin ich in den Kindergarten gegangen. Die Kindergartentante Auguste (Name geändert) hat mich nicht akzeptiert.

Schon beim Vorgespräch mit der Mama haben wir es gemerkt. Sie hat zu Mama gesagt, ich würde nicht in den Kindergarten passen und hat mich immer gleich weggeschuppst. Sie hat mich nicht mögen. Ich war wahrscheinlich ihr Opfer, weil ich behindert war. Und Melanie auch. Sie hat eine Erbkrankheit. Aber vor ihrem Papa hatte Auguste Angst, sagt
Melanie. Und vor meiner Mama hat sie dann später auch Spuntis gehabt. Die andere Kindergartentante, in meiner Gruppe, hat mich eher in Schutz genommen. Sie war so wie eine Mama zu uns. Ihr war es egal, ob mit Behinderung oder ohne, sie behandelte alle Kinder gleich und hat keinen Unterschied gemacht. Das nenne ich Inklusion oder Chancengleichheit.

Sie ist einmal hier auf meinem Arbeitsplatz, im Sprungbrett, gewesen und hat sich unser Keramikgeschirr angeschaut. Erst hatte ich ein komisches Gefühl, weil ich dachte, ist sie es, oder ist sie es nicht? Ich habe sie irgendwie gleich erkannt. Sie mich aber nicht. Darum habe ich sie auch nicht spontan angeredet, sondern erst mal abgewartet.Dann ist sie zu mir an den Tisch gekommen und hat sich angeschaut, wie ich Keramikgeschirr bemale und hat mit mir geredet. Auf einmal hat es ihr geschaltet, wer ich bin und hat mich gefragt, ob ich Sybille bin. Sie machte mir gleich ein Kompliment und sagte, dass ich super malen kann. Sie hat sich zu mir gesetzt. Dann sind wir ins Gespräch gekommen. Als sie gesagt hat, dass sie mich vom Kindergarten kennt und sich nicht vorstellen konnte, dass ich jemals so gut malen kann, habe ich mich gut gefühlt und mich gefreut, dass ich sie wieder mal gesehen habe.

Es hat auch Kinder gegeben, die haben nicht gerne mit mir gespielt, da kann ich mich noch gut dran erinnern. Die haben mich so eine Art wie ausgeschlossen. Melanie hat immer mit mir gespielt, wenn wir zusammen waren.

Als ich mal nicht mitspielen durfte, habe ich alle Puzzles vor lauter Wut mit einem Schlag auf den Boden geworfen. Dann haben sie blöd aus der „Wäsche“ geschaut. Die gute Kindergartentante, hat mich voll verteidigt und die anderen mussten alles aufheben. Aber sie haben mich immer noch nicht akzeptiert. Ob sie es heute täten, ich weiß es nicht. Außer Mona (Name geändert), die hat jetzt heute selber schon Kinder, kenne ich niemanden mehr. Aber heute redet sie mit mir. Ich erkenne die anderen nicht mal mehr auf dem Foto. I bin ja auch immer alleine im Eck gesessen und hab ein Nägelespiel gemacht.

Mit sechs Jahren bin ich dann endlich in die Volksschule gegangen. Dort habe ich Sascha kennengelernt. Er hatte auch Skoliose, genau wie ich. Komischerweise sind wir, ich glaube, ein Jahr danach auch zusammen in der Sonderschule in dieselbe Klasse gegangen.

Wir haben uns jeden Morgen im Schulhof getroffen und einen Mords Spaß gehabt. Endlich hatte ich einen Schulkollegen, mit dem ich spielen konnte. Er ist schon mehr gebeugt gegangen und ich glaube die Ärzte konnten nichts mehr für ihn tun. Jetzt wurden wir zu zweit gehänselt. Ihn haben die anderen Schulkollegen noch mehr gefuchst, als mich. Aber gemeinsam waren wir stark und er hat sich gewehrt. Ich habe mich eher zurückgezogen und er hat mich vor den anderen verteidigt.

Und Thomas, wir sind immer im Hasensprung vom Bus abgeholt worden, er hat mich auch beschützt.

Leider habe ich Sascha ganz aus den Augen verloren. Eigentlich schade. Oft frage ich mich, was ist aus ihm geworden, aber ich weiß es nicht. Vielleicht könnte ich mal nachforschen, denn Mama weiß auch nichts.

1991 wurde ich in Innsbruck in der Uniklinik, das erste Mal operiert. Danach bin ich ins SPZ Bludenz in die S-Klassen gegangen. Hier war es lustiger und nicht so hektisch wie in der Sonderschule. Und vor allem hatte ich nicht so einen Leistungsdruck. Nach der OP war ich am Anfang noch müde und musste immer mal wieder Blut abnehmen lassen und jeden Tag Medikamente nehmen.

Hier im Sonderpädagogischen Zentrum hatte ich gute Schulkollegen und Melanie, wieder troffen, die ich schon vom Kindergarten gekannt habe. Wir haben erst nicht glauben können, dass wir uns auch hier wieder sehen. Bis Ende unserer Schulzeit waren wir Freundinnen. Den Kontakthaben wir nie abgebrochen und jetzt sind wir seit vielen Jahren gute Arbeitskolleginnen.

Ach ja, und meine Arbeit im Sprungbrett Lädele der Caritas Werkstätte Bludenz, ist mir sehr wertvoll und wichtig. Es ist mir jeden Tag ein Anliegen, dass ich schaffen gehen kann. Viele Leute wären froh, sie hätten eine Arbeit. Und ich darf hier Keramikund Glasgeschirr bemalen, in die Apotheke und in die Stadt einkaufen gehen, also fast meinem Hobby nachgehen und werde von vielen Kunden bewundert.

Und lesen, moderieren, Texte diktieren kann ich hier auch noch und schnattern, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Hier bei der Arbeit bin ich auf jeden Fall selbständig und mutig. Da traue ich mir auch viel mehr zu als daheim. Doch langsam ziehe ich dort nach.

Jetzt gehe ich daheim allein in den Keller mülltrennen, Klopapier holen, im Zimmer abstauben, saugen, Fenster putzen, abwaschen und abtrocknen und langsam immer mehr Schuhe putzen. Manchmal koche ich Wurstnudeln, mach mir eine Päcklesuppe oder wärme mir vom Mittagessen etwas auf. Und das ist ein gutes Gefühl. Ich fühle mich frei, mutig und stark.

Als Kind fühlte ich mich ängstlich und jetzt, wo ich erwachsen bin, zeige ich keine Schwäche mehr und rede frei raus, was mir nicht passt. Wenn ich jetzt in den Kindergarten ginge, würde ich mich nicht mehr unterkriegen lassen, jetzt würde ich mich wehren!

Da wäre ich heute ganz anders. Ich würde ihnen zeigen, was ich kann. Vor allem die Angst, dass mich jemand verletzen oder angreifen könnte, kann ich heute loslassen. Jetzt bin ich spritziger, mutiger, flinker und vor allem, ich lass mich nicht mehr unterkriegen.


Sybille Grafl Kurzbiografie

Sybille Grafl ist am 4. Dezember 1978 in Nenzing/Vorarlberg geboren und lebt seit 1979 in Bludenz bei ihren Adoptiveltern Anneliese und Josef Grafl. Seit Oktober ’96 ist sie in der Werkstätte Bludenz der Caritas Vorarlberg beschäftigt. Im Jänner 1999 wurde in der Innenstadt von Bludenz „das Sprungbrett“ eröffnet, in dem sie von Anfang an mitarbeitete.


Laudatio
von Eva Jancak

Sie hat sich richtig entschieden oder wir haben es zusammen geschafft – ein Lebensbericht

Die 1978 in Nenzing geborene Sybille Grafl hat es nicht leicht gehabt in ihrem Leben.

War sich ihre Mutter doch nicht sicher, ob sie Kind, Arbeit und alles andere schaffen könne und hat sich deshalb dafür entschieden, sie zur Adoption freizugeben.

„Sie hat sich richtig entschieden! Ich bin richtig froh! Sie hat mir praktisch mein Leben geschenkt und ich habe es auch so wollen!“, schreibt die Erwachsene heute, die seit 1996 im „Sprungbrett Lädle“ der Caritas Vorarlberg in Bludenz tätig ist und dort, wie sie weiter schreibt, sehr viel Freunde am Bemalen von Keramik- und Glasgeschirr hat, wofür sie von den Kunden auch sehr bewundert wird.

So ist die kleine Sybille zu Anneliese und Josef Grafl, ihren Adoptiveltern gekommen, die „sich super, um sie kümmerten“ und gemeinsam mit ihr ein „unschlagbares Team“ darstellen.

Denn sie hatte es, wie schon erwähnt, nicht leicht gehabt, war sie doch, als Baby sehr schwach, mußte im Brutkasten liegen und konnte kaum Nahrung aufnehmen.

So daß die Mutter ganz schön „buddeln“ mußte, bis Sybille so stark wurde, daß sie den Kindergarten besuchen konnte.

Mit vier Jahren ist das gewesen und das war für Sybille Grafl, die seit dem dritten Lebensjahr an einer Skoliose leidet, eine so unangenehme Erfahrung, an die sie noch heute denken muß und die auch der Grund dafür war, daß sie diesen Text diktierte, der uns Jurymitglieder sehr beeindruckt hat.

In sehr eindringlichen Worten beschreibt Sybille Grafl die Ausgrenzung und Mobbingerfahrung, die sie dort durch eine Erzieherin erlebte und bis heute nicht vergessen hat.

„Es hat mich immer wieder beschäftigt, wie gemein man mich behandelt hat!“, schreibt sie offen.

„Ich wünsche keinem behinderten Kind, daß es ihm so ergeht, wie mir! Darum möchte ich, daß viele Menschen meinen Text lesen!“

Sehr eindringlich und genau wird hier aufgezeigt, wie sich Ausgrenzung auswirken kann, aber auch, wie sich alles verändert, wenn ein „unschlagbares Team“ dazu da ist, schwierige Situationen zu meistern!

Als Kindergartenkind, konnte sich Sybille Grafl, wie sie schreibt, nicht wehren!

Da fühlte sich ängstlich und brauchte andere, den Vater, der Freundin und die Mutter, vor denen die Kindergärtnerin „Spuntis“ hatte.

Heute aber, wo sie erwachsen und selbständig ist, wo sie ihren Hobbies nachgehen, lesen, moderieren, Texte diktieren und vor allem „schnattern“, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, kann, zeigt sie keine Schwäche mehr, sondern redet oder schreibt frei heraus, was ihr nicht passt!

„Wenn ich jetzt in den Kindergarten ginge, würde ich mich nicht mehr unterkriegen lassen, jetzt würde ich mich wehren! Ich würde ihnen zeigen, was ich kann! Jetzt bin ich spritziger, mutiger, flinker!“, diktiert Sybille Grafl ihre Gefühle und ihren Mut zur Veränderung und kann so auch anderen, die vielleicht noch nicht so weit sind, ein Beispiel sein!

Sie zeigt aber auch sehr nachdrücklich auf, was man mit unbedachten Worten, Taten, Handlungen anrichten kann!

„Gemeinsam haben wir es geschafft, ich habe alles und bin zufrieden“, schreibt Sybille Grafl in ihrem starken Text, dem man nur viele viele Leser wünschen kann und so gratuliere ich der Ohrenschmaus-Preisträgerin von 2016, die sich, glaube ich, auch schon an den früheren Wettbewerben beteiligt hat, sehr und freue mich auf weitere mutige Texte, die die Erfahrungen zeigen, die man im Beruf, Schule, Kindergarten, etcetera machen kann und sehr eindringlich demonstrieren, daß auch Menschen mit sogenannten Behinderungen, Gefühle haben über die sie nachdenken, zu sprechen und zu schreiben wissen!


Auszug aus der Jurybegründung
von Eva Jancak:

„In sehr eindringlichen Worten beschreibt Sybille Grafl, die Ausgrenzungen und Mobbingerfahrungen, die man als sogenanntes „behindertes Kind“ in Kindergarten und Schule erleben kann. Sie zeigt aber auch, dass man mit Mut und Kraft und vor allem mit Hilfe anderer über diese Erfahrungen hinweg kommen, stark, mutig und selbstbewusst werden kann!“


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